Im zweiten Teil des Blogs zum Tag der offenen Tür geht es um das Thema Mobilität im Zusammenhang mit dem Coworking. Sie spielte schon bei der Gründung des Netzwerks eine zentrale Rolle, denn Coworking Nordhessen entspringt dem Mobilitätswettbewerb #mobilwandel2035
Die Entwicklung der Mobilitätswelt war selten so schwer vorherzusagen wie heute, weil technologischer Fortschritt, Ressourcenknappheit und die spürbare Veränderung des Klimas alle Akteure, in der Politik und Verwaltung genauso wie in der Mobilitätsbranche, unter enormen Handlungsdruck setzen. In der Mobilitäts-Session haben wir deshalb verschiedene Branchenexperten nach ihrer Sicht auf die Mobilität in 2035 gefragt und konnten sehr vielfältige, spannende Perspektiven auffangen, die wir in diesem Beitrag mit euch teilen möchten.
Im ersten Diskussionsbeitrag beschrieb Achim Vorreiter, Leiter der Stabsstelle Mobilität im ländlichen Raum des Nordhessischen Verkehrsverbunds (NVV), die besonderen Herausforderungen bei der Erschließung des ländlichen Raums. Diese sieht er in dispersen (zerstreuten) Siedlungsstrukturen, jahrelanger Förderung der Automobilität und der zunehmenden funktionalen Trennung zwischen Wohn- und Arbeitsort, die es erschweren, attraktive ÖPNV-Angebote aufzubauen. Um schnell gegen den Klimawandel aktiv zu werden, plädiert er dennoch dafür, stärker auf die Nutzung des ÖPNV zu setzen und diesen in Nordhessen weiter auszubauen. Das Coworking ist aus seiner Sicht eine begrüßenswerte Entwicklung, um die Verkehrssysteme zu entlasten, indem z.B. Verkehrsstoßzeiten vermieden werden können, der work-from-home Trend und die Pandemie belasten seine Branche jedoch merklich.
Robert Wöhler vom Allgemeinen Deutschen Fahrradclub (ADFC) sieht die derzeitigen Entwicklungen von Ressourcenknappheit und Klimakrise dagegen eher als Bestätigung dafür, dass dem Fahrrad eine noch wichtigere Rolle in der Zukunft zustehen wird. Mehr Mobilität auf das Rad zu verlagern helfe dabei Energie zu sparen, das Klima zu schonen, Straßen sicherer zu machen und Flächenversiegelung entgegenzuwirken, dafür sind jedoch stärkere Anstrengungen nötig: Es müsse eine adäquate Radinfrastruktur flächendeckend aufgebaut werden, Bike & Ride-Stationen an Bahnhöfen errichtet und Radschnellwege ausgebaut werden. Eine positive Entwicklung und ein Umdenken seien jedoch in den verantwortlichen Stellen zu sehen und auch in Nordhessen sind viele Projekte zur Förderung des Radverkehrs in Planung oder bereits mit der Umsetzung gestartet.
Marcus Federhoff, der stellvertretend für das Mobilitätsnetzwerk NiMo e.V. an der Diskussion teilnahm, nutzte seinen Beitrag, um die allgemeine Entwicklung im Berufsverkehr zu skizzieren. So werden aus seiner Sicht die deutschen Metropolen in den kommenden Jahren weiterhin wachsen, gleichzeitig steige aber auch die Zahl derer, die in einer anderen Kommune arbeiten als sie wohnen. Das würde ohne entschiedenes Handeln dafür sorgen, dass mehr und weiter gependelt wird, wie es bereits in den letzten Jahren der Trend war. Gegenmaßnahmen, wie der Ausbau von Radinfrastruktur und ÖPNV seien zwar wichtig und gut, zeichnen sich jedoch immer auch durch langwierige Prozesse aus, weshalb er eine Kehrtwende in der Mobilität bis 2035 deshalb allein mit diesen Mitteln für nicht sehr realistisch hält.
Kurzfristig spürbarer sei dagegen die Entwicklung der remote Arbeit, die aus seiner Sicht ein anhaltender Trend sein wird. Für den Verkehr bedeute das eine Entlastung, es sorgt aber auch dafür, dass sich das Mobilitätsverhalten nach Verkehrsmittel, Häufigkeit und Uhrzeiten diversifizieren werde, weil Berufstätige freier entscheiden werden, wann und ob sie zur Arbeit pendeln wollen. Diese Entwicklungen müssen von Mobilitätsanbietern wahrgenommen und es müsse sich darauf eingestellt werden.
Uwe Zimmermann vom CarSharing-Anbieter Regio.Mobil versucht in seiner Betrachtung der Mobilität in 2035 auch nach unserem Wunschszenario zu fragen. So sei die „Zukunft nicht einfach nur Verlängerung der Vergangenheit“, weil disruptive Ereignisse und Entwicklung immer wieder auch unsere Prognosen der Zukunft stören. Es gelte daher, effizientere Verkehrssysteme zu entwickeln, die durch Diversifizierung resistenter gegen äußere Einflüsse wie den Klimawandel oder politische & wirtschaftliche Spannungen werden. Das Auto wird uns als Verkehrsmittel aus seiner Sicht erhalten bleiben, müsse aber einen anderen Stellenwert in der Mobilität erhalten. Ein Kernelement ländlicher Mobilität sieht er im Teilen von Mobilität, durch Mitfahrgelegenheiten und Mobilitäts-Sharing (z.B. CarSharing & BikeSharing), aber auch durch öffentliche Verkehrsmittel. Auch müsse Intermodalität, also das Kombinieren verschiedener Verkehrsträger, gefördert und technische Trends genutzt werden, um zukunftsfähige Mobilität zu schaffen. Denn heute werden viele Haushalte noch vor die Entscheidung gestellt, ob sie sich ein Auto oder lieber Dauerkarten leisten, anstatt Verkehrsträger klimafreundlich und effizient zu kombinieren. Die Grundlage dafür müsse dringend bis 2035 geschaffen werden, denn von da an sind es nur noch 10 Jahre bis zur geplanten Klimaneutralität der Bundesrepublik 2045.
In den vergangenen Jahrzehnten haben sich unsere Standards verändert, was den Umgang mit Mobilität angehe, formuliert Uwe Koch, der den Fachbereich Schulen, Sport und Mobilität des Landkreis Kassel verantwortet. Für Wege, die unsere Eltern noch zu Fuß oder mit dem Rad zurückgelegt haben, seien wir heute zu bequem geworden. Eine große Chance, um diesen Trend wieder umzukehren, sieht er in der Früherziehung von Kindern, indem schon im Schulkindalter auf eine bewusste, autofreie Mobilität gesetzt wird, die sich dann bis in das Erwachsenenalter durchzieht. Seitens der Verwaltungen sieht er große Potenziale, Prozesse und Verfahren zu vereinfachen, um schneller Projekte zur Verbesserung der Infrastruktur umsetzen zu können. Parallel dazu müsse weiterhin Öffentlichkeitsarbeit geschehen, um ein stärkeres Bewusstsein für alternative Mobilität in der Bevölkerung aufzubauen.
Es ist nicht nur die Bequemlichkeit, kommentierte der Moderator Michael Schramek, die unser Mobilitätsverhalten von vorherigen Generationen unterscheidet, sondern auch die Entfernungen, die wir in unserem Alltag zurücklegen. Die Digitalisierung der Arbeitswelt könnte für uns eine Chance sein, diese Entfernungen wieder zu reduzieren und zu einer Welt der oftmals kurzen Wege zurückzukehren, in der man sich mehr im eigenen Wohnort und in Fuß- oder Raddistanz von zuhause aufhält. Coworking Spaces könnten bei dieser Entwicklung eine treibende Rolle spielen. Würden die Kosten, die unser Mobilitätsverhalten für die Umwelt verursacht, bei der Bepreisung von Mobilität berücksichtigt werden, könnte eine solche Lebensweise in Zukunft noch viel attraktiver werden, ergänzt Dr. Melanie Herget. Sie ist Umweltwissenschaftlerin, forscht zu Mobilitätsthemen an der Universität Kassel und leistete den abschließenden Redebeitrag in der Mobilitätssession.
In ihrem Vortrag spricht sie davon, dass die Veränderung der Pendlermobilität nicht nur Vorteile mit sich bringt, sondern auch Rebound-Effekte,auftreten können, wodurch am Ende in der Summe mehr Ressourcen verbraucht und mehr CO2 emittiert wird als zuvor. Ob zusätzliche Wege mit dem Auto zum Supermarkt gefahren werden, Menschen wegen dem selten gewordenen Pendeln ihren Wohnort weiter vom Arbeitgeber weg verlagern oder mit dem gesparten Geld für Kraftstoff oder Dauerkarten in den Urlaub fliegen – diese Effekte können die CO2-Bilanz alternativer Mobilitätslösungen stark belasten und müssen berücksichtigt werden. Sie formuliert es so:
„Wir leben heute in einer extrem arbeitsteiligen Welt, dadurch gerät häufig die gesamtheitliche Perspektive aus dem Blick. Das sorgt dafür, dass es zum Teil sehr unbeabsichtigten Rebound-Effekten kommt.“
Die Diskussion in der Mobilitäts-Session zeigt deutlich: Bewegungsfreiheit und Klimaschutz müssen keine konkurrierenden Ziele sein. Die heutige Digitalisierung der Arbeitswelt bietet bereits die Chance, Freiheit und Mobilität neu zu definieren:
Selbstbestimmte Alltagsgestaltung in lebendiger, ländlicher Umgebung, statt Lebenszeit im Verkehr zu verbringen. Durch eine intelligente Verknüpfung von Coworking und CarSharing können Dörfer wiedererweckt und Regionen mobil gemacht werden.